Home

Andalunien

Städte

Musik

Lesungen

Bühne

Kunst

Kino

Sport

Sehen können

Der tägliche
Wahnsinn

Letzte Einträge

Kontakt


 

zurück zur Übersicht Kunst

Haare 

Kunstpräsentation im Braunschweiger Museum für Photographie: 
Besucher auf der Bühne
November 2008

Museum für Photographie, BraunschweigSchwer bepackt mit Einkaufstüten komme ich an unserem Museum für Photographie vorbei. Es läuft gerade die Ausstellung "Haare" mit Bildern von Tamara Grcic aus New York. Draußen spricht mich ein junges Mädel an: "Haben Sie Lust, ins Museum zu kommen und Fotos anzusehen? Es passiert dann auch etwas!" Okay, warum nicht. Endlich passiert mal was. 

Drinnen werde ich von einem jungen Mann mit Inge-Meysel-Perücke nett empfangen und vor die Alternative gestellt: Kaffee trinken oder Fotos ansehen. Ich entscheide mich für die Fotos.

In einem kleinen Raum sind an einer Wand 57 farbige Fotografien von haarigen Hinterköpfen ausgestellt. Die einzelnen alle gleich großen Bilder sind für mein Empfinden nicht besonders aussagekräftig, stellen aber in der Gesamtheit durch die strenge graphische Zuordnung zueinander ein interessantes, optisch ansprechendes Gesamtkunstwerk dar.

Im Nebenraum unterhalten sich Inge Meysel und eine weitere männliche Person auf englisch.

Inge Meysel: "Wollen wir eine weitere Aufnahme machen?"
Der Andere: "Mit der Lady nebenan?"
Inge Meysel: "Yes."

Ich gehe in den Nebenraum und finde Inge Meysel in gleißendem Scheinwerferlicht stehend vor, wie er auf englisch in eine Kamera spricht. Als ich dazu komme, verwickelt er mich in ein philosophisches Gespräch. Über mir schwebt plötzlich ein Galgen mit einem riesigen Mikrophon. Inge Meysel dreht mir vor laufender Kamera den Rücken zu, zeigt auf seine rechte Schulter und fragt mich: "Was sagt dieser Bereich über meine Gefühle aus?"

Mir wird heiß, was nicht nur an dem zu dicken Wintermantel und dem Schal liegen dürfte. Ich stelle meine Einkaufsstüten ab, um Zeit zu gewinnen, und suche fieberhaft nach einer interessanten Antwort - und nach englischen Vokabeln.

Dann dreht er sich wieder um und schlägt mir als nächstes einen frei-assoziativen Austausch über die haarigen Fotos im Nachbarraum vor. Schweiß tritt auf meine Stirn. Ich öffne meinen Mantel und wickele meinen Schal ab. Er hat auch schon eine Idee, wie wir vorgehen werden: Er fängt an, und dann darf ich. Und erzählt:

"Als ich neulich nachts nicht schlafen konnte und an diese Ausstellung dachte, bekam ich Hunger. Ich stand auf, ging an den Kühlschrank und schmierte mir ein Brot. Als ich die Margarine auf das Brot schmierte, sah ich plötzlich ein langes Haar in der Margarine auf meinem Brot. Ich aß das Brot und spürte, wie das Haar langsam durch meinen Hals wanderte. Seitdem kann ich kein Brot mehr essen, ohne an dieses Haar zu denken."

Ich nun wohl auch nicht mehr.

Tamara GrcicZum Abschluss bekomme ich noch einen Kaffee, eine Haarkur und ein Haargummi sowie eine Einladung für nächsten Donnerstag, wenn die Künstlerin herself anwesend sein wird. ("A very interesting person!")

Auf dem Nachhauseweg grübele ich darüber nach, was ich noch alles hätte antworten können, und wie ich mich besser auf englisch hätte ausdrücken können. Außerdem meine ich inzwischen, Ende der 90er Jahre schon einmal etwas über diese Haarfotographien gelesen und die Künstlerin in einer Talk-Show gesehen zu haben.

Im Internet erfahre ich, dass das Ganze ein Projekt unserer Kunsthochschule ist: Eine besondere Form der Kunstvermittlung, die den Besucher auf die Bühne des Ausstellungsraumes bringen soll.

Kunst kann nachhaltig sein! Es ist zuweilen nur eine Frage der Präsentation.

Mal sehen, vielleicht gehe ich nächsten Donnerstag sogar hin.

 

zurück zur Übersicht Kunst