zurück
zur Übersicht Berlin
zurück
zur Übersicht Städte
Berlin:
Fußballfieber und Brandenburger Tooor
4.
bis 8. Juni 2006
Als
ich auf dem neuen Berliner Hauptbahnhof ankomme, trifft mich der Schlag.
Tausende von Leuten wuseln ameisengleich durch die fünf Ebenen und
schieben sich über die zahlreichen Rolltreppen. Ich sehe vom 5. OG in die
Tiefe, mir wird schwindelig, und es ist laut.
Ein
paar Freunde begrüßen mich dafür umso herzlicher, als ich sie auf
einem Brunch in Kreuzberg treffe. Dort bekomme ich erst einmal einen Sekt, der
meine Nerven wieder einigermaßen ins Lot bringt. Nach einem Abstecher zum
Karneval der Kulturen fahre ich ins Hotel.
Über
der Stadt thront der Fernsehturm, die Kuppel ist zurechtgemacht wie ein
Fußball.
Fußball-Fieber
Fußball
ist am nächsten Tag auch ein Thema im Prenzlauer Berg, wie überall in der Stadt. Das
frühere Arbeiterviertel ist heute schmucke Schicki-Micki-Ausgeh-Adresse.
Neben Szene-Cafés - vor denen man teilweise nicht mehr sitzt sondern auf
speziellen Möbeln "liegt" - und kleinen Geschäften gibt es aber auch noch
besetzte Häuser. Die Parolen: "Gegen Yuppies!"
Angesiedelt
sind hier aber auch zwei Kulturzentren, der "Pfefferberg", wo
unter anderem jedes Jahr im August ein Flamenco-Festival stattfindet, und die
"Kulturbrauerei". Und,
wer’s mag: Unter der U-Bahn die berühmte Konnopke-Currywurst!
Ich
hocke mich auf einen der paar Stühle, die ein Türke vor seinen Imbiss
auf den Gehweg gestellt hat. Ein benachbarter deutscher Wirt plaudert mit ihm:
"Wir
haben hier alle kein Kabel, das war wohl in unserem Viertel nicht
vorgesehen." Der Türke: "Ich interessiere mich ja nicht für
Fußball, aber für die Gäste müssen wir ja ..." Noch vier Tage bis
zum Eröffnungsspiel.
Auf
der Spree
Der
Kapitän des Kutters, der mich eine Stunde lang die Spree rauf- und
runterkutschiert, ist waschechter Ossi und nimmt kein Blatt vor den Mund.
Als wir den im Abriss befindlichen Palast der Republik passieren, lässt
er dann auch seiner Empörung darüber freien Lauf. Auf der Tour kann man
vorzügliche Ansichten z. B. der Museumsinsel, des Regierungsviertels oder
des neuen Hauptbahnhofs genießen – in diesem Fall gespickt mit
Kommentaren, die eine sehr eigene Sicht der Dinge wiedergeben.
Am
nächsten Morgen fahre ich zur Gemäldegalerie im
Kulturforum, nahe dem Potsdamer Platz. Endlich mal einen Caravaggio im
Original sehen, darauf freue ich mich schon lange. Aber natürlich ist
dieser gerade ausgeliehen und weilt bei den Tulpen in Amsterdam. Auch Dürers
Mann mit dem goldenen Helm ist nicht da. Ärgerlich zwar, aber die
Sammlung zu sehen ist dennoch ein Erlebnis.
Nach
einer Pizza am Hackeschen Markt und einem Gang durch die Hackeschen Höfe
(einem äußerst schmuck hergerichtetem früherem Ensemble aus Wohnen und
Arbeiten – wenigstens den ersten mit wer weiß wie viel Millionen
Mosaiksteinchen verzierten Hof sollte sich kein Berlin-Besucher entgehen
lassen) geht es über die geschichtsträchtige Friedrichstraße, die heute
zu der angesagten Einkaufsstraße geworden ist. Als ich bei Gucci
vorbeikomme, überlege ich kurz, ob ich mit meiner Rocker-Lederjacke da
mal kurz vorstellig werden und nach einem Handtäschchen
fragen sollte.
Brandenburger
Tooor
Am
Abend nähere ich mich dem – wie es zurzeit heißt – Brandenburger
Tooor. Hier beträgt das WM-Fieber gefühlte 42° C! Der ganze Bereich
rund um das Brandenburger Tor sowie die Straße des 17. Juni ist bis zur
Siegessäule einschließlich des sie rechts und links säumenden
Tiergartens wegen der WM-Feiern abgesperrt, ein riesiges Areal. Ganz
Berlin scharrt mit den Füßen, aber hier ist das nahe Ereignis besonders
intensiv zu spüren.
Bereits
von weitem höre ich eingespielte Musik, die Simple Minds. Soundcheck für
das große Fanfest am nächsten Tag, nehme ich an. Ich husche durch ein
Schlupfloch im Zaun, und als ich mit vielleicht höchstens 30 weiteren
Leuten vor der Bühne vor dem Brandenburger Tor stehe, sehe ich eine
riesige Leinwand und stelle fest, dass passend zur Musik sogar einen
Film von einem Simple-Minds-Konzert eingeblendet wird. Dann wandert mein Blick
ein paar Meter unter die Leinwand auf die Bühne – und was sehe ich? Sie
spielen dort live! Für eine TV-Produktion! Gänsehaut pur!
Blick
von der Reichstagskuppel
Kurz
vor Mitternacht komme ich am Reichstag vorbei. So edel in warmes, gelbes
Licht getaucht habe ich ihn noch nie gesehen. Plötzlich entdecke ich oben
an den Eingangstüren zwischen dem ganzen Wachpersonal zwei Zivilisten,
wie sie gerade von dem Gebäude verschluckt werden. Ich renne die Treppe
hoch, und: tatsächlich! Anlässlich der WM darf man die Kuppel noch bis 1
Uhr besichtigen! (Normalerweise nur bis 22 Uhr, und dem geht meist eine
zweistündige Wartezeit voraus.) Nach einem Sicherheitscheck wie am
Flughafen werden wir drei in einen Aufzug geführt und nach oben zur
Kuppel gebracht.
Der
Ausblick über das nächtliche Berlin ist sensationell! Vom Brandenburger
Tor klingt immer noch Musik herauf. Ich bin begeistert! Einer von den
beiden, mit denen ich hochgefahren bin, sagt: "Das ist so eine
verrückte Stadt! Berlin ist so verrückt!" Ich erzähle von meinem
Simple-Minds-Erlebnis. Er: "Und sowas kannste hier andauernd
erleben! Ich lebe hier erst seit Januar, aber ich habe bisher jede Minute
genossen! Es ist der Wahnsinn! WAHNSINN!" Ich kann ihn so verstehen.
Medizinhistorisches
Museum der Charité
Als
ich das Plakat gesehen hatte, hatte ich M. lachend darauf hingewiesen,
weil es so nett passte (er mit Hörgeräten, ich mit Kontaktlinsen): Es ist
eine Handprothese abgebildet, darüber der Titel „Leben mit Ersatzteilen“.
Also finden wir uns im Medizinhistorischen Museum der Charité ein. Das
Interessanteste für mich: Es werden über Kopfhörer Hörproben
angeboten, die das Hören mit Hörgeräten unterschiedlicher Qualität
bzw. Entwicklungsstufen wiedergeben. Bei der ersten überlagern die
Nebengeräusche den Dialog, bei der zweiten sind beide Lautstärken etwa
gleich und bei der dritten ist der Dialog lauter als die Nebengeräusche.
Auf dieser Basis kann ich mir anschließend im Gespräch mit M. eine
Vorstellung davon machen, "wie" er in etwa hört.
Eine
Etage höher befindet sich das Gruselkabinett des Dr. Mabuse: Eingelegte
Schrecklichkeiten jeglicher Couleur. Während ich bereits bei den
entstellten Embryonen schlapp mache, schafft es M. noch bis zu
verschiedenen Hautkrebsarten, um dann aber ebenfalls aufzugeben.
Ich
brauche dringend Frischluft und fahre an den Wannsee. Nur 30 Minuten mit
der S-Bahn, und ich befinde mich in einem idyllischen Naherholungsgebiet
mit Hafen und Strand. Auf dem See am Abend noch zahlreiche weiße Dreiecke
der Segelschiffe, eine Fähre setzt über nach Kladow, Vögelgezwitscher,
ein Fischreiher steigt vor mir mit lautem Getöse aus dem Schilf auf.
Das
neue Berlin
Am
nächsten Tag reise ich ab. Mein
Zug fährt auf der obersten Etage des gläsernen Bahnhofs ab. Der
Bahnsteig ist viel breiter als der des Bahnhofs Zoo, wo alles immer sehr
beengt zuging. Auch ist es hier sehr hell und luftig, und die Sonne brennt
mir auf den Pelz. Inzwischen gefällt er mir, der neue Bahnhof! Und - so
traurig es vor allem für die dortigen Geschäftsleute ist: Aber der
"Kiez"
rund um den Zoo mitsamt dem Ku’damm ist wohl ein auslaufendes Modell.
Mir
gefällt inzwischen sehr gut, wie sehr Berlin sich entwickelt hat durch
den Mauerfall. Selbstverständlich ist in viele Ecken der Kommerz
eingezogen, aber dafür hat die Stadt kulturell enorm gewonnen. Das
kuschelige West-Berlin hatte zwar im Schatten der Mauer seinen
linkspolitisch, sozialromantisch-verklärenden dekadenten Reiz, aber die Zeiten
für diese Enge sind einfach vorbei.
Ich
glaube, das neue Berlin bietet einfach enorme neue, unbegrenzte
Möglichkeiten.
zurück
zur Übersicht Berlin
zurück
zur Übersicht Städte
|