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Beim Arzt: "Wir können nur gesund oder schön!"

Ein herrlicher Sommer! Ich bin draußen, so oft es geht, fahre leicht bekleidet mit dem Rad zur Arbeit. Allerdings entdecke ich seit einiger Zeit gewisse Irritationen auf meiner Haut, wahrscheinlich ausgelöst durch die Sonne. Ist ein Medikament Schuld, das ich seit Anfang des Jahres nehme, und das sich mit der Sonne nicht verträgt? Ein Arztbesuch soll Klärung bringen.

Ich entscheide mich für einen Termin bei Doktor Schön, einem Hautarzt, der in dieser Stadt seit einigen Jahren bei der Damenwelt für Furore sorgt. Er soll nicht nur schön machen, er selbst soll auch ausgesprochen schön sein. Den will ich mir mal ansehen.

Als ich die Praxis betrete, pralle ich an einem sensationellen Dekolletee ab. Das gehört nicht Doktor Schön, aber seiner Mitarbeiterin (und wie man sich erzählt: Lebensgefährtin) am Empfang. Ein imposantes, größtenteils frei gelegtes und sanft gebräuntes Gedicht aus Samt und Seide.

Zu diesem Dekolletee gehört eine tiefe, rauchige, sündige Stimme. "Füllen Sie diesen Fragebogen aus!" Darauf steht die Frage: "Sind Sie wegen medizinischer oder kosmetischer Fragen hier?" Ich überdenke meine Hautirritationen und murmele halblaut: "Medizinisch … kosmetisch …." Das Dekolletee harscht mich heiser an: "Na, sollen wir Sie schön machen oder gesund? Wir können nur schön oder gesund!" Ich zucke zusammen und kreuze "schön" an.

Und wage noch eine Frage: "Bekomme ich die 10 Euro Praxisgebühr zurück, wenn ich eine Überweisung nachreiche?" Das schöne Dekolletee bellt mich an: "NEIN!"

Ich trolle mich in das Wartezimmer, das einen weiteren Blick auf den Empfang zulässt. Die Empfangsdame erhebt sich und geht ein paar Schritte. Zu sündigem Dekolletee und rauchiger Stimme gehören auch noch streng zurückgekämmte, dunkle Haare, eine üppige Figur, ein schwarzes Minikleid und hohe, schwarze Wildleder-Pumps.

Es gibt auch noch eine richtige Sprechstundenhilfe in einem blauen Kittel, aber die macht sich in einem hinteren Bereich zu schaffen und verrichtet Laborarbeiten.

Im Wartebereich lasse ich meine Blicke zunächst über die Wartenden schweifen (alle schön!) und dann über die Werbeplakate an den Wänden. Falten wegflexen, Fett wegspritzen, Lippen aufblasen … das macht alles Doktor Schön!

Derweil stolziert die strenge Domina am Empfang auf ihren schwarzen Wildleder-Stöckelschuhen gekonnt auf und ab. An ihrer rechten Wade entdecke ich einen dunklen Fleck. "Na, da hat Doktor Schön aber etwas geschlampt", denke ich.

Dann werde ich aufgerufen. Muss in dem Behandlungszimmer noch ein wenig warten. Weitere Werbeplakate an den Wänden: "Besenreiserbehandlung, Hautverjüngung, Achselschweißbehandlung!"

Dann wird die Tür aufgerissen, und Doktor Schön wirft sich auf einen Stuhl vor seinem PC. Zunächst bin ich enttäuscht: Doktor Schön ist weißhaarig! Das hätte ich nicht erwartet! Um diesen Makel zu beheben, gibt es doch wesentlich unkompliziertere Methoden als jene, mit denen ich mich während meiner Wartezeit auseinandergesetzt habe. Aber egal: Doktor Schön ist trotzdem schön und feingliedrig, hat feine Gesichtszüge und eine schöne Haut.

Er starrt in seinen PC und fragt mich: "Was führt Sie zu mir?"

Ich: "Zunächst dachte ich, nur eine Sache. Aber nach der Zeit in Ihrem Wartezimmer  sind es jetzt sieben oder acht …"

Er lächelt selbstzufrieden in seinen Monitor.

Ich zeige ihm meine Hautirritationen, erzähle von meinem Medikament und frage, ob es da einen Zusammenhang geben könnte. Er schaut kurz drauf und dann wieder in seinen Monitor. "Manche Medikamente können manche Hautirritationen auslösen", palavert mein Arzt und verkneift sich ein leichtes Gähnen. "Ich empfehle ‘*lateinischer Name* Strahlender Teint‘! Das kann wirken, muss aber nicht. Verteilt vielleicht die Pigmente …" Schreibt etwas auf einen Zettel, schiebt ihn mir ‘rüber. Ich lese: "*Lateinischer Name* Strahlender TAIN." Mein Hautarzt weiß nicht, wie "Teint" geschrieben wird?

Er fragt: "Sonst noch was?" Verkneift sich das Gähnen jetzt auch nicht mehr und sackt in seinem Stuhl leicht müde zusammen.

Ich: "Öhm, ja, also, äh … Da ich gerade hier bin: Ich habe mir Anfang des Jahres ein paar Besenreiser wegspritzen lassen, und einige sind schon wieder da. Fünf Sitzungen à 50 Euro!"

Doktor Schön wird schlagartig munter. "Fünf Sitzungen? Ich mache Ihnen das in zwei! 85 Euro für eine!" Ich zeige ihm meine Beine, aber wir werden zunächst nicht handlungseinig.

"Sonst noch was?", fragt er nun wieder gelangweilt seinen Monitor.

Ich: "Ja klar! Nachdem davon hier alles volltapeziert ist: Die Fett-weg-Spritze!"

Doktor Schön erklärt seinem Monitor die Bedingungen: "Von der Fett-weg-Spritze erwarten übergewichtige Leute immer, dass sie davon abnehmen. Dabei ist sie nur dafür geeignet, Problemzonen zu reduzieren."

Ich: "Aber dann trifft das doch auf mich zu! Ich habe doch nur diese eine Problemzone. Ansonsten bin ich doch schlank!"

Zum ersten Mal sieht er mich richtig an: "Ach so, stimmt ja …" Richtet sich in seinem Stuhl wieder etwas auf, wirkt plötzlich munter und blitzt mich an: "Es sind fünf Sitzungen notwendig, ob es was bringt, weiß man nicht, eine Sitzung kostet 285 Euro."

Als ich die "Praxis" verlasse, muss ich noch mal an der Domina vorbei.

"Naaaa, was sind Sie jetzt, schön oder gesund?"

"Beides", lächele ich.

"Und Sie brauchen keinen weiteren Termin?"

"Nö."

 

 

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